Liebe Leser*innen des Inklusionsnewsletters,
wir alle wurden aufgerüttelt von der schrecklichen Tat in Potsdam Ende April, als vier Menschen in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderungen getötet wurden und eine Bewohnerin verletzt. Die Trauer und die Fassungslosigkeit sind noch lange nicht überwunden, und dies wird auch Zeit brauchen.
Handeln erforderlich: Gewaltschutz in Einrichtungen
Dennoch müssen wir über einen Aspekt dringend sprechen - und handeln. Denn auch wenn die genauen Hintergründe in diesem Fall nicht bekannt sind, wirft der Fall ein Schlaglicht darauf, dass Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen in vielen Fällen nicht ausreichend vor Gewalt geschützt sind. Insbesondere Frauen und Mädchen mit Behinderungen erleben im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt zwei- bis dreimal häufiger Gewalt, meist in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Noch viel zu oft sind Einrichtungen geschlossene Systeme, in denen die Bewohner*innen betreut werden, aber nicht selbstbestimmt am Leben teilhaben können. Dabei sind sowohl der Gewaltschutz als auch die Deinstitutionalisierung Menschenrechte, die sich verpflichtend aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergeben. Deswegen möchte ich auf das Thema der strukturellen Abhängigkeit noch in diesem Jahr ein besonderes Augenmerk legen. Ich halte Sie hierzu auf dem Laufenden.
Erfreulich ist in diesem Zusammenhang, dass mit dem neuen Teilhabestärkungsgesetz, das gerade vom Bundestag verabschiedet wurde, der Gewaltschutz erstmals im SGB IX verankert wurde. Um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen vor Gewalt geschützt werden, werden die Leistungserbringer verpflichtet, Gewaltschutzkonzepte zu entwickeln und umzusetzen. Diese sollen auf die jeweilige Einrichtung zugeschnitten werden. Ziel ist ein umfassender Gewaltschutz, der Präventionsmaßnahmen, Beschwerde- und Beteiligungsstrukturen einschließt.
Allerdings darf diese Neuerung kein zahnloser Tiger zu Lasten der Menschen in den Einrichtungen werden. Wichtig ist, diese Konzepte auch zu leben und regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen: Sind sie geeignet, sind sie wirksam? Zu genau dieser Frage, der Frage der Überprüfung, hätte ich mir noch mehr Verbindlichkeit in der gesetzlichen Vorgabe gewünscht - damit die Leistungserbringer hier nachhaltig und aktiv in der Verantwortung sind.
Eine Lücke im Gesetz: Assistenz im Krankenhaus
Ein weiteres Thema, bei dem es dringenden Handlungsbedarf gibt, ist das Thema „Assistenz im Krankenhaus“. Das Problem ist seit Jahren bekannt: Menschen mit Behinderungen, die im Alltag von Assistenzkräften unterstützt werden, benötigen diese Unterstützung normalerweise auch, wenn sie ins Krankenhaus oder in eine Reha-Einrichtung müssen. Dies gilt vor allem für Menschen, die zum Beispiel aufgrund kognitiver Einschränkungen nicht mit Worten kommunizieren können oder auf Ungewohntes mit Ängsten reagieren. Noch immer ist in den meisten Fällen nicht geklärt, wer die Kosten für die Assistenz übernimmt.
Eine Lücke im Gesetz, die im Leben von Menschen mit Behinderungen gravierende Folgen haben kann: Notwendige Krankenhausaufenthalte werden vielfach lange hinausgeschoben, manchmal bis akute Lebensgefahr besteht. Oder Angehörige müssen für die Begleitung oft ihren kompletten Jahresurlaub oder sogar zusätzliche unbezahlte freie Tage nehmen. Um nur zwei Aspekte zu benennen.
Gemeinsam mit allen Behindertenbeauftragten der 16 Bundesländer wie auch mit der Patientenbeauftragten und dem Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung habe ich mich sowohl innerhalb der Bundesregierung als auch im politischen Raum stark dafür eingesetzt, dass diese Gesetzeslücke geschlossen wird. Auch die betroffenen Menschen mit Behinderungen selbst und ihre Interessenvertretungen haben immer wieder auf die Problematik hingewiesen. Es gab eine Petition dazu, die im Bundestag behandelt und vom Petitionsausschuss an die Bundesregierung überwiesen wurde. Sowohl die Bundestagsabgeordneten der Koalitionsfraktionen als auch der Bundesrat haben die Bundesregierung aufgefordert, kurzfristig einen Lösungsvorschlag vorzulegen. Fraktionsübergreifend und auch interministeriell besteht mittlerweile Einigkeit darüber, dass wir dringend eine gesetzliche Lösung brauchen.
Doch bis heute haben sich die zuständigen Ministerien, das Bundesministerium für Gesundheit und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, nicht über die Kostenfrage einigen können. Den Frust der Betroffenen kann ich gut nachvollziehen, denn die Zeit wird knapp.
Nachbesserungsbedarf: Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
Kurz vor dem Abschluss steht ein weiteres wichtiges Vorhaben des Gesetzgebers: Die Umsetzung des sogenannten European Accessibility Acts, der EU-Richtlinie für mehr Barrierefreiheit, in Deutschland. Das neue Gesetz trägt den Titel „Barrierefreiheitsstärkungsgesetz“ und soll auch private Anbieter zu mehr Barrierefreiheit verpflichten. Auch hier gibt es noch Nachbesserungsbedarf: So haben Anbieter beispielsweise 15 Jahre Übergangszeit, um barrierefreie Selbstbedienungsterminals aufzustellen. Dieser lange Zeitraum ist nicht nachvollziehbar und wird nicht nur von mir kritisiert. Auch muss die bauliche Umwelt einbezogen werden - wem nutzt ein barrierefreier Geldautomat, wenn er nur über Stufen erreichbar ist? Ich hoffe sehr, dass das Gesetz im parlamentarischen Verfahren noch nachjustiert wird.
Sie sehen, es gibt viele Kritikpunkte. Aber um einen bekannten Ausspruch einmal umzudrehen: Wo viel Schatten ist, ist auch Licht. Wir diskutieren, wir setzen uns auseinander, wir wägen ab und ringen um Kompromisse: Das ist Demokratie. Es ist nicht immer leicht, manchmal etwas zäh, und natürlich müssen wir auf der Suche nach möglichen Wegen darauf achten, dass die Rechte aller Menschen, mit und ohne Behinderungen, angemessen berücksichtigt werden. Aber ich bin optimistisch, dass uns dies gelingt.
Veranstaltung: Digitale Barrierefreiheit in Deutschland
Am Ende darf ich Sie noch auf eine Veranstaltung hinweisen, die ich gemeinsam mit der Staatsministerin für Digitalisierung Dorothee Bär für den „Global Accessibility Awareness Day“ (Weltweiten Aktionstag für mehr Barrierefreiheit) am 20. Mai 2021 vorbereitet habe: Den „Digital Accessibility Summit - Digitale Barrierefreiheit in Deutschland“. Er richtet sich vornehmlich an Kommunikatoren, Öffentlichkeitsarbeiter*innen, Agenturen oder Entwickler*innen von Software, die mit Barrierefreiheit noch nicht viele Berührungspunkte hatten. Teilnehmen können jedoch selbstverständlich alle - schalten Sie sich gerne ein. Mehr Informationen finden Sie unten.
Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit, bleiben Sie gesund.
Herzlich grüßt Sie
Ihr
Jürgen Dusel
Beauftragter der Bundesregierung
für die Belange von
Menschen mit Behinderungen