Nachlese: Fach-Veranstaltung zum Thema „Gewaltschutz in Einrichtungen“erschienen am
Nachlese: Fach-Veranstaltung zum Thema „Gewaltschutz in Einrichtungen“erschienen am
Wie kann der Schutz vor Gewalt in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe verbessert werden? Der Internationale Tag der Menschenrechte am vergangenen Freitag (10. Dezember) war eine passende Gelegenheit, dieses Thema zu diskutieren - bei einer Online-Fachveranstaltung gemeinsam organisiert vom Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) und dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.
Über 400 Interessierte schalteten sich ein. Im Rahmen der Veranstaltung kamen unter anderem Expert*innen im Bereich Gewaltprävention, Frauen-Beauftragte aus Einrichtungen, Interessensvertretungen und Vertreter*innen von Bundes- und Landesbehörden zu Wort.
Hintergrund der Veranstaltung: Seit diesem Jahr gibt es eine neue Regelung im Sozialgesetzbuch, die Einrichtungsträger dazu verpflichtet, Maßnahmen zur Gewaltprävention (Paragraph 37a SGB IX) zu entwickeln. Zudem erschien im September dieses Jahres eine Studie des Instituts für empirische Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales: Diese formuliert vielfältige Handlungsansätze für den Gewaltschutz von Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen. Diese Empfehlungen waren auch in der Veranstaltung vielfach Thema.
Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, machte zu Beginn klar: „Vor Gewalt geschützt zu sein ist zentral und existenziell für jeden und jede von uns individuell, aber auch für unser gesellschaftliches Miteinander und für unsere Staatsordnung insgesamt. Denn eines ist doch klar: Gewalterfahrungen, sei es psychische Gewalt, sei es physische Gewalt, sei es sexualisierte Gewalt, sei es strukturelle Gewalt, sind ein schreckliches Erlebnis. Und deswegen ist der Schutz vor Gewalt die oberste Aufgabe jeder staatlichen Ordnung. Gewaltschutz ist ein Menschenrechtsthema.“
Britta Schlegel, Leiterin der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des DIMR, führte aus: „Studien belegen: Menschen in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe sind derzeit nicht wirksam vor Gewalt geschützt. In Deutschland leben rund 200.000 Menschen mit Behinderungen in sogenannten besonderen Wohnformen. Frauen und Mädchen sind dort besonders von Gewalt betroffen. Gewalterfahrungen machen aber auch Männer und Jungen mit Behinderungen. Denn in Wohneinrichtungen herrschen oft asymmetrische Machtverhältnisse zuungunsten der Bewohnerinnen und Bewohner. Sie erleben den Alltag als fremdbestimmt und haben zu wenig Privatsphäre.“
Forum 1: „Gewaltprävention in Einrichtungen durch Schutzkonzepte und Schutzpflicht“
Im Forum 1 kamen Ann-Kathrin Lorenzen (Sozialpädagogin und integrative Coachin; Referentin sexuelle Selbstbestimmung und Gewaltprävention, PETZE-Institut für Gewaltprävention gGmbH, Kiel) und Professorin Jeanne Nicklas-Faust (Bundesgeschäftsführerin, Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V.) zu Wort. Sie beschäftigten sich mit der Frage, wie konkret Gewaltprävention ausgestaltet sein muss und wie entsprechende Standards gesetzt werden können. Lorenzen führte aus, dass Betroffenen von Gewalt (von den Tatpersonen) oftmals eingeredet würde, dass es sich um ein individuelles Problem handle, beziehungsweise sie selber schuld seien. Genau das Gegenteil sei der Fall, es handle sich um ein strukturelles, institutionelles, ein gesellschaftliches Phänomen. Sie stellte in ihrem Fachvortrag ein konkretes Schutz- und Präventionskonzept vor, das unter anderem folgende Elemente enthielt: Fortbildungen, Präventionsangebote, Partizipation, die Festlegung auf einen Verhaltenskodex in der Einrichtung, sexualpädagogische Konzepte und eine zentrale Ansprechstelle. Professorin Nicklas-Faust beschäftigte sich unter anderem mit der Frage, was die Lebenshilfe tun kann, damit es in ihren Einrichtungen keine Gewalt gibt. Menschen mit Behinderungen seien besonders von Gewalt betroffen, weil es ein Ungleichheitsverhältnis gebe, so Nicklas-Faust. „Sie haben oft jemanden, der sie begleitet, sich kümmert, sich um sie sorgt. Sie sind beispielsweise gewohnt bei der Körperpflege unterstützt zu werden, ohne dass dies immer auf ihre Empfindungen abgestimmt wird. Das führt oftmals zu einer Art ‚duldender Haltung‘, bei der schon das Gefühl für Übergriffe weniger ausgeprägt ist. Und allein durch die Bezeichnung ‚Mensch mit Beeinträchtigung‘ besteht die Gefahr, dass wir ihnen einen niedrigeren Status zuweisen“, führte Nicklas-Faust aus. Dem müsse entgegengewirkt werden, Bewohner*innen müssten an der Gestaltung des Wohnens beteiligt werden. Das beginne schon bei der Frage, ob es eine Hausordnung gebe. Nicklas-Faust stellte eine Checkliste zur Selbstevaluation vor, die innerhalb der Lebenshilfe verwendet werde, um Gewalt zu vermeiden. Diese werde gemeinsam mit Bewohner*innen (und Nutzer*innen allgemein) bearbeitet.
Forum 2: Mitwirkung und Empowerment der Bewohner*innen
Im 2. Forum gab es einen Input von Katja Eichler (Frauen-Beauftragte im Hessischen Diakoniezentrum Hephata und Vorstandsfrau im Bundesnetzwerk der Frauen-Beauftragten in Einrichtungen – Starke.Frauen.Machen. e. V.) und Ricarda Kluge (Projektkoordinatorin „Frauenbeauftragte in Einrichtungen“, Weibernetz e. V.). Sie schilderten, wie genau die Rolle und die Arbeit von Frauenbeauftragten in Einrichtungen aussehen kann. Im Kern stand die Forderung, dass Frauenbeauftragte viel mehr Unterstützung bräuchten. Hier bestätigte sich ein Aspekt, der bereits früher in der Veranstaltung thematisiert worden war, die mangelnde Einbindung. Katja Eichler schilderte: „Ich habe das Gewaltschutzkonzept in die Hand gedrückt bekommen, ohne dass die Leitung oder das Fachpersonal mit mir darüber gesprochen haben. Ich wurde auch nicht mit eingebunden bei der Erstellung des Gewaltschutzkonzeptes. Nun gibt es nichts, wo ich noch einbezogen werde oder wo meine Sichtweisen berücksichtigt werden.“ Die Arbeit der Frauenbeauftragten brauche eine gesetzliche Stärkung zum Beispiel in der Werkstätten-Mitwirkungsverordnung. Strukturell mangele es oft an Dingen wie einem Büro, Arbeitsausstattung oder auch die Frage der Freistellung sei nicht geklärt. Ein weiteres Problem führte Ricarda Kluge aus: Es brauche nicht nur in den Werkstätten, sondern auch in den Wohneinrichtungen Frauenbeauftragte. Gesetzlich verankert sei dies jedoch nur in Bremen, Rheinland-Pfalz und Thüringen. Ansonsten basiere dies auf der Freiwilligkeit der Einrichtungen und sei eine Entscheidung der Leitung. Dies dürfe jedoch nicht sein.
Forum 3: Intervention und Opferschutz: Sozialraumöffnung und Vernetzung mit dem externen Unterstützungssystem
Im Forum 3 waren Sandra Boger (Referentin der Projekte „aktiv gegen digitale Gewalt“ und „Suse - sicher und selbstbestimmt“, Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe e. V.) und Pia Witthöft (Leiterin Mutstelle, Lebenshilfe gGmbH Berlin und Ansprechpartnerin bei der Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt) eingeladen. Sie gingen auf die Frage ein, wie die Sozialraumöffnung konkret funktionieren und wie die Vernetzung zwischen verschiedenen Akteuren des Sozialraums aussehen kann.
Wichtig sei, so arbeiteten die Referentinnen heraus, die Vernetzung zwischen den Einrichtungen der Eingliederungshilfe und externen Unterstützungssystemen, wie zum Beispiel Fachberatungsstellen, Polizei und Justiz - und zwar nicht nur bezogen auf Einzelfälle, sondern auch als dauerhafte „Runde Tische“ und flächendeckend in ganz Deutschland. „Wenn die Betroffenen die eigenen Rechte oft nicht kennen oder Assistent*innen nicht genug Wissen über Hintergründe und Dynamiken von Gewalt haben, dann fehlt der Gedanke, man könne sich an die Polizei wenden und dieser gut genug erklären, worum es geht“, so Pia Witthöft. Es sei wichtig, in Schutzkonzepten festzulegen, dass eine externe Fachberatung hinzugezogen werden muss, wenn es zu Problemen kommt. „Auf Seiten der Eingliederungshilfe fehlt oft die Idee, dass es überhaupt Hilfe von außen geben könnte.“ Sandra Boger ergänzt das mit dem Bild von „zwei Paralleluniversen: Einrichtungen der Eingliederungshilfe und Fachberatungsstellen“ - mit ihren jeweiligen Kompetenzbereichen. Vernetzung und Austausch könne dafür sorgen, dass insgesamt ein besserer Umgang mit Gewaltvorkommnissen entsteht. Sie forderte außerdem, dass es bundesweit ausformulierte Standards für die Umsetzung von Gewaltschutzkonzepten gibt.
Beide waren der Ansicht, dass es externe, barrierefreie Beschwerdestellen geben müsste, aber: Der Auftrag der Beschwerde- oder Ombudsstelle müsse klar formuliert sein. Für die Betroffenen muss transparent sein: Was passiert, wenn ich mich an eine Beschwerdestelle richte? Bleibt es vertraulich? Wird eine Handlungskette ausgelöst?
Forum 4: Überwachung des Gewaltschutzes durch Aufsichtsbehörden
Eingeladen zu Forum 4 waren Donald Ilte (Leiter der Abteilung Pflege, Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung, Berlin) und Katja Augustin (Leiterin der Aufsicht für unterstützende Wohnformen, Landesamt für Soziales und Versorgung, Brandenburg). Sie gingen in ihren Vorträgen der Frage nach, welche Voraussetzungen für einen erfolgreichen behördlichen Schutz vor Gewalt in Wohneinrichtungen gegeben sein müssen.
Ilte stellte in seinem Beitrag klar, dass Gewaltschutz aus seiner Sicht immer Querschnittsaufgabe sei. Daher sei es wichtig, die einzelnen Bereiche innerhalb einer Verwaltung zu vernetzen - man dürfe nicht nur im eigenen Zuständigkeitsbereich bleiben. In Berlin seien dies im Bereich „Soziales“ zum Beispiel die Fallsteuerung durch die Teilhabeämter, das leistungsrechtliche Vertragswesen und natürlich die Selbsthilfestrukturen. Oder im Bereich Pflege die Fachaufsicht Heimaufsicht/Pflege, die Ausbildung in den Pflegeberufen oder auch die Beratungsstrukturen (Pflegestützpunkte, Pflege in Not). Eine wichtige Rolle spielen auch die Bereiche Gleichstellung und Antidiskriminierung. Deren Projekte und Beratungsstrukturen müssten immer auch für die Situation von Menschen, die in Einrichtungen leben, sensibilisiert sein. Ilte führte aus: „Das neue Berliner Heimrecht, das in diesem Jahr in Kraft getreten ist, hat erstmals konkrete Regelungen zum Schutz vor Missbrauch, Gewalt und Diskriminierung aufgenommen. Es formuliert konkrete Anforderungen und Pflichten der Leistungsanbieter und liefert der Aufsicht Instrumente für Prüfung und Maßnahmen zur Beseitigung festgestellter Mängel.“ Aber, so Ilte weiter: „Nicht das Heimrecht alleine kann das Mittel der Wahl sein, es geht auch um ein Selbstverständnis der Heimaufsicht. Angestrebt wird ein beratungsorientierter Prüfansatz. Es geht um aktive Fortbildung aller Mitarbeitenden, es geht um belastbare Netzwerke, ressortübergreifende Zusammenarbeit. Erst dann kann Heimaufsicht mit einem beratungsorientierten, fachlich fundierten Prüfansatz einiges bewirken.“ Katja Augustin stellte die Arbeit der Aufsicht für unterstützende Wohnformen in Brandenburg vor. Ihre Leitfragen waren unter anderem: Wie nähert sich die Aufsicht für unterstützende Wohnformen den Einrichtungen zum Thema Gewalt? Wie kann eine Überwachung des Gewaltschutzes als Aufsichtsbehörde gelingen? Dabei sei nicht nur der ordnungsrechtliche Aspekt wichtig, sondern der Schwerpunkt der Arbeit liege vor allem auch auf Prävention: „Unsere Aufgabe ist es, den durch die strukturelle Abhängigkeit und die Machtstrukturen bestehenden Gefahren für Gewalt entgegenzuwirken und so gut wie möglich auszugleichen,“ so Augustin. „Wir nehmen wahr, dass wir mit dem Beratungsansatz und dem präventiven Ansatz am erfolgreichsten sind.“ Notwendig sei ein offener Umgang mit dem Thema und ein gesellschaftlicher Diskurs aller Akteure. Sie schilderte auch, dass Risikofaktoren für Gewalt in Einrichtungen zugenommen haben, unter anderem durch Personalmangel, fehlende Führungskompetenzen oder ein fehlendes Werteverständnis.
Podiumsdiskussion: Gewaltschutz in Wohneinrichtungen – Ausblick und Handlungsnotwendigkeiten
In der abschließenden Podiumsdiskussion ging es um einen Ausblick und um die Frage nach Handlungsnotwendigkeiten. Hier diskutierten Udo Diel (Leiter der Abteilung Soziales, Pflege und Alter, Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen), Martina Puschke (Leiterin des Projekts „Politische Interessenvertretung behinderter Frauen“, Weibernetz e. V.) und Dr. Rolf Schmachtenberg (Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales).
Martina Puschke bestätigte zwar, dass sich seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland einiges getan habe, so sei der Gewaltschutz in Einrichtungen, gerade auch der Schutz vor sexualisierter Gewalt, immer weniger Tabuthema. Sie führte jedoch an, dass es immer noch sehr drängende Probleme gebe. Von der Reform im SGB IX habe man sich mehr erwartet, so gebe es dort keine Zeitvorgaben zur Umsetzung eines Gewaltschutzkonzeptes und auch keine Sanktionierung, wenn Leistungsanbieter sich nicht an die Vorgaben hielten. Rolf Schmachtenberg wies auf die Aufbereitung von Unrecht und Leid in Einrichtungen der Behindertenhilfe durch die Stiftung Anerkennung und Hilfe hin und warb für eine aktive Erinnerungskultur. Er betonte, dass es jetzt notwendig sei, dass Länder und Einrichtungen die bereits bestehenden und neu geschaffenen rechtlichen Regelungen mit Leben füllen. Akuten Handlungsbedarf sehe er auch bei den Rahmenbedingungen für die Arbeit, beispielsweise den Löhnen der Mitarbeitenden und dem Betreuungsschlüssel. Udo Diel berichtete aus Nordrhein-Westfalen und von einem aktuellen Gesetzesentwurf zur Reform des Wohn- und Teilhabegesetzes NRW, der den Gewaltschutz im Land verbessern soll.
Abschlussstatements
Zum Abschluss der Veranstaltung betonte Britta Schlegel, dass die Verpflichtungen der UN-Behindertenrechtskonvention zum Gewaltschutz vollständig umzusetzen seien. Dazu gehöre, das Thema entsprechend zu priorisieren – sei es bei politischen Vorhaben oder im Arbeitsalltag in der Wohneinrichtung. Gewaltschutz müsse zu einer Priorität werden. Dazu habe auch der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bei der Staatenprüfung Deutschlands ermahnt: Er habe eine übergreifende Gewaltschutzstrategie für Menschen mit Behinderungen gefordert. Dazu seien laut Schlegel sehr viele Akteure zum Handeln aufgefordert. Das reiche vom Bundesgesetzgeber über die Leistungsträger der Eingliederungshilfe bis hin zu den Fachkräften in Wohneinrichtungen.
Jürgen Dusel zog ein Fazit der Veranstaltung. Er erläuterte zunächst, dass im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung nun verbindlichere Maßnahmen zur Verhinderung von Gewalt sowie eine ressortübergreifende politische Strategie gegen Gewalt vorgesehen seien. Dies sei sehr zu begrüßen, denn der Gesetzgeber sei in der Pflicht, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu setzen. Darüber hinaus sei auch eine koordinierte Umsetzung notwendig. Außerdem ging er darauf ein, wie wichtig die Öffnung der Einrichtungen in den Sozialraum sei: „Einrichtungen dürfen keine Schutzfestungen sein, das haben wir nicht erst heute gelernt. Sie müssen sich öffnen in den Sozialraum. Gleichzeitig muss dieser Sozialraum natürlich barrierefrei sein, also zum Beispiel Hilfesysteme wie Frauenhäuser oder Beratungsangebote.“ Damit sei nicht nur die bauliche, sondern auch die kommunikative Barrierefreiheit gemeint. Wichtig sei es nun, dass alle Akteure ins Handeln kommen - und nicht erst abwarteten. „Gewaltschutz ist ein Menschenrecht - dies duldet keinen Aufschub“, so Jürgen Dusel.
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